Vor Kurzem schrieb ich darüber, was der (Spitzen-)Sport von der New-Work-Bewegung lernen kann und warum es notwendig ist, sich über einen „New Sport“ bzw. ein „Re-Inventing“ des Sports Gedanken zu machen.
Heute geht es in einer entgegengesetzten Perspektive darum, Phänomene aus dem Spitzensport als Inspiration für New Work wahrzunehmen und zu nutzen.
Arbeit, die ich wirklich, wirklich will?
Laut des Begründers von New Work, Frithjof Bergmann, soll es im Berufsleben darum gehen, eine Arbeit oder Tätigkeit zu finden und auszuüben, die „ich wirklich, wirklich will“. Sie soll – ganz im Sinne der Maslowschen Bedürfnispyramide und postmaterieller Ideale – „selbstverwirklichende Arbeit“ sein, die zur „Selbstfindung“ beiträgt und „sinnerfüllend“ ist. Dementsprechend gilt es, neben dem organisationalen auch nach dem persönlichen „Purpose“ und dem gegenseitigen Fit zu fragen. Arbeit soll „Passion“ und „Berufung“ sein und nicht länger nur die Ausübung eines Berufs, einer Rolle oder einer Tätigkeit.
Vertreter der ab 1995 geborenen und mit der neuen Arbeitswelt aufwachsenden Generation Z, wie z.B. der Gründer der Tubeconnect Media UG, Charles Bahr, betonen, dass es ihnen und ihren Altersgenoss*innen „um Spaß, um Leidenschaft für das [geht], was man tut“. Dafür sei man auch (wenn nötig und entgegen anderslautender Behauptungen) bereit, am Wochenende zu arbeiten und eine Zeit lang auf Sicherheiten zu verzichten (bei Tubeconnect fehlte zu Beginn ein Investor). Allerdings werde man sich langfristig nur in solche Unternehmen investieren, in denen man etwas bewegen und Sinnstiftung erfahren könne. Laut Bahr sollten „Unternehmen, die in den kommenden Jahren junge Talente gewinnen wollen, […] sich daher fragen, was sie ihnen ermöglichen wollen, damit sie ihr Bestes geben und gern zur Arbeit kommen“.
Und die Unternehmen, wie reagieren sie auf diese Bedürfnisse? Nun ja, sehr heterogen. Es gibt Firmen, die noch sehr in alten, starren Hierarchien und Mustern denken und handeln und ihre Haltung auch nach außen tragen. Andere wiederum denken noch traditionell, aber erscheinen nach außen hin neu und hipp. Und dann gibt es noch diejenigen Unternehmen, die die Maxime der New-Work-Bewegung (Sinnerfüllung, Freiheit, Selbstverwirklichung etc.) sowohl innerlich anstreben als auch nach außen hin darstellen und leben.
Wo mit dem Label „New Work“ geworben wird, finden sich häufig schicke Coworking-Spaces. Es werden agile Methoden und moderne Visualisierungstechniken genutzt – und auf Convenience geachtet. Denn locker soll es sein im Büro. Easy. Am besten ohne störende Chefs und Hierarchien und stattdessen demokratisch und selbstorganisiert. In Peace and Harmony. Lässige Shirts, intelligent-machende Brillen und weiße Sneakers inklusive. Zwar schon mit Einsatz, aber am liebsten dann doch eher in einer 20-30 Stunden- bzw. 4-Tage-Woche. Denn Arbeit soll zwar sinnerfüllt sein und zur Selbstverwirklichung beitragen, gleichzeitig aber nicht zu viel Lebenszeit beanspruchen – und vor allem nicht anstrengen.
Das klingt attraktiv. Kritisch betrachtet kommt allerdings die Frage auf, ob etwas, das ich wirklich, wirklich will, nicht auch immer etwas von mir fordert? Wie hoch ist der Preis, den ich dafür zu zahlen bereit bin – und welchen Preis zahlen Akteur*innen aus anderen Bereichen?
Was Leidenschaft mit Leidensfähigkeit zu tun hat
Vergleicht man die moderne Wirtschaftswelt mit dem Spitzensport, fällt auf, dass – oberflächlich betrachtet – viele der genannten Phänomene in beiden Subsystemen vorzufinden sind. Auch im Spitzensport geht es um Passion und Purpose; darum, das zu tun, was man wirklich, wirklich will (und vielleicht auch als einziges wirklich, wirklich kann) und wovon man schon als Kind geträumt hat. Und in den medienträchtigen sowie finanzstarken Hauptsportarten sind dann auch die schicken Klamotten und Gucci-Täschchen sowie modern ausgestattete Trainingszentren und Wettkampfarenen inklusive.
Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied im Vergleich zwischen Spitzensport und New Work: die Leidensfähigkeit.
Wer es bis in den Profibereich geschafft hat, hat mindestens alljährlich wiederkehrende Auswahl- und Drop-Out-Prozesse überstanden, Tausende von Stunden für das große Ziel geschuftet, sich nach (langen) Verletzungen und Blessuren wieder herangekämpft, Familie und Umfeld verlassen und nicht selten Erniedrigungen und Unfairness erduldet, Misserfolge weggesteckt und Ängste überwunden – alles nur, um das zu tun, was man wirklich, wirklich kann und will: spielen und sich mit den Besten des Fachs zu messen.
Seit meiner Zeit beim 1. FC Köln, wo ich in einem sportartenübergreifenden Internat gewohnt und gearbeitet habe, bis heute habe ich in meiner Tätigkeit als Life-Coach im Spitzensport bereits viele junge Talente und Profis kennengelernt, begleitet und erlebt – mit ihrer Freude und Hoffnung, aber auch mit ihren Ängsten, Zweifeln und Enttäuschungen. Und Trainer*innen, die Tag und Nacht für ihren Sport leben, darin aufgehen und zum Teil auch daran zerbrechen. Ex-Profis, die für ein Taschengeld wieder ganz unten als Assistenztrainer im Nachwuchsbereich anfangen – nur, um wieder nah dran zu sein an dem, was sie über alles lieben: Fußball. Ob es regnet, stürmt oder schneit oder die Sonne brennt: Sie sind immer da und bereit für jedes Training und für jedes Spiel.
Meine ehemalige Kollegin und frühere Leiterin der Kölner Geißbock-Akademie, Beate Weisbarth, hat in ihrem gemeinsam mit dem ehemaligen Effzeh-Nachwuchschef Christoph Henkel verfassten Buch „Karriereziel Fußballprofi“ aufgeführt, dass ein 17-jähriges Fußballtalent sechsmal wöchentlich einen 12-Stunden-Tag hat – „je nachdem, wie lange die Anreise zum Leistungszentrum dauert, auch darüber hinaus“ (S.22). Und das in dem Bewusstsein, dass nur 3,5 Prozent der Talente Profifußballer werden. Und noch eindrücklicher gestaltet sich die Situation bei Talenten aus weniger populären Sportarten: Ihnen ist klar, dass sie, selbst wenn sie irgendwann im Erwachsenenbereich zur Weltspitze gehören werden, im Hinblick auf ihre finanzielle Sicherheit in der Regel nicht allein vom Sport werden leben können.
Während also die Nachwuchskräfte im Wirtschaftssektor (in dem ich zusätzlich zu meiner Tätigkeit als Life-Coach im Spitzensport nun seit bald vier Jahren als Personalentwickler und Coach arbeite) aufgrund des Fachkräftemangels und geburtenschwacher Jahrgänge in dem daraus resultierenden „War for Talents“ ihre neue Machtposition ausspielen, sich ihren Arbeitgeber aussuchen und Ansprüche stellen können, müssen Sporttalente tagtäglich Höchstleistungen abrufen, um den harten Konkurrenzkampf um die viel zu wenigen Profiplätze am Ende für sich zu entscheiden. Selbst wenn sie bereits früh als „Wunderkinder“ und kommende Megastars gehypt werden, bringt sie das zwar in die Position, aus mehreren Nachwuchsleistungszentren das aus ihrer Sicht für sie passende aussuchen zu können. Aber dafür stehen sie umso mehr in der Pflicht und unter dem Druck, die enormen eigenen und fremden Erwartungen erfüllen zu müssen. Erfüllen sie sie nicht, erhalten sie vielleicht noch eine zweite oder dritte Chance. Aber irgendwann sind sie verbrannt, gebrandmarkt, dropped out und vergessen. Da braucht es sehr viel Leidensbereitschaft und Durchhaltevermögen, einen im wahrsten Sinne des Wortes langen Atem, um sein Ziel zu erreichen – und eine gute Portion Stehaufmännchen-Mentalität, wenn man es am Ende trotz allen Einsatzes nicht in den Profibereich geschafft hat.
Ein Missing-Link in der New-Work-Debatte
All diese genannten (Charakter-)Eigenschaften kommen mir in der Debatte um New Work zu kurz. Es geht zu häufig darum, was Unternehmen gefälligst bieten sollen, aber zu selten wird betont, was man selbst bereit ist, dafür zu geben und zu erleiden. Jede*r möchte schnell etwas sein, Gehör finden und sofort Förderung erfahren und Feedback erhalten, aber wer will denn erst noch etwas werden und die Leistungen und Erfolge derer würdigen, die bereits vor ihr oder ihm im Unternehmen waren? In den Nachwuchsleistungszentren werden Trainer*innen in der Regel gesiezt, es gibt verbindliche Regeln für das gelingende Miteinander, Aufgaben und Dienste wie z.B. Hütchen, das Ballnetz oder Tore zu tragen. Es wird gefördert und gefordert. Sicher erfolgt das nicht immer in einer ausgewogenen Balance und es ist fraglich, ob 12-Stunden-Tage sechsmal in der Woche wirklich sein müssen. Ja, es gibt einiges zu kritisieren und zu verändern im Profi- und Nachwuchssport – aber sicher nicht eine fehlende Leidensfähigkeit für die alle Akteur*innen verbindende Leidenschaft.
Wenngleich ich die New-Work-Bewegung begrüße und die Erwartung an eine sinnerfüllte und zur Selbstverwirklichung beitragende Arbeit teile, sehe ich es deshalb auch kritisch, wenn der Wohlfühlfaktor und Convenience-Gedanke zu sehr in den Mittelpunkt gerückt werden. Echte Persönlichkeits- und langfristige Unternehmensentwicklung brauchen m.E. immer auch die Bereitschaft, die eigene Komfortzone zu verlassen und – wie es Thomas Tuchel einmal so treffend formuliert hat – die Fähigkeit, „Hindernisse zu überwinden [und …] sich den Weg auch mal freizuräumen“. Eine New-Work-Bewegung, die diese Aspekte berücksichtigt, braucht sich nicht davor zu fürchten, zu einer temporären Schönwetter-Community ohne Substanz und Durchhaltevermögen zu verkommen – sondern hat vielmehr das Potenzial, Arbeit und Gesellschaft nachhaltig zum Besseren zu verändern.
Michael Micic
Bild: un-perfekt/pixabay
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