Kraftakt in der Corona-Krise

 

Hochleistungssysteme wie Spitzensport und Wirtschaft und moderne Gesellschaften wie die westlich geprägten kennen keinen Stillstand.

Normalerweise muss es immer und immer wieder neu höher, schneller und weiter gehen. Wie gesagt: normalerweise. Doch in Zeiten des weltweit grassierenden Corona-Virus ist schon lange nichts mehr normal. Ganz im Gegenteil.

 

Herausforderungen der Gegenwart

Sowohl die weltweite Sportart Nummer eins, der Fußball, als auch der Spitzen- und Leistungssport als Ganzes haben seit Wochen den Spiel- und Wettkampfbetrieb eingestellt. Übungseinheiten finden fast ausschließlich als Cyber-Training per Videoübertragung oder App statt. Wer wie einige Profi-Clubs mit einer Ausnahmegenehmigung der Behörden in Kleingruppen auf dem Vereinsgelände trainieren darf, muss strenge Kontakt- und Hygienevorschriften einhalten. So mutiert der Fußball während der aktuellen Corona-Pandemie vom „Kampfsport“, wie ihn Miro Klose einst bezeichnete, zu einem Spiel ohne Körperkontakt und weitgehend ohne Spielgerät. Nein, normal ist das wirklich nicht, was sowohl im Fußball als auch im Spitzen- und Leistungssport als Ganzes gerade passiert – bzw. nicht passiert.

Aber nicht nur im Sport, auch in anderen Bereichen des Lebens und der Gesellschaft ist alles anders in Zeiten von Corona. In Wirtschaftsunternehmen stehen vielerorts Produktionen und Geschäftstätigkeiten still. Öffentliche Einrichtungen, Kirchen, Schulen und Kindergärten sind geschlossen; Bars, Kneipen und Restaurants dicht; Frisörsalons und Kosmetikstudios ebenso. #WirBleibenZuhause wird zum Zwangscredo eines Großteils der Bevölkerung. Wer kann und genügend (Arbeits-)Aufträge hat, arbeitet mobil von zu Hause aus; ansonsten droht Angestellten die Kurzarbeit mit massiven Gehaltskürzungen und auf Dauer der Verlust des Arbeitsplatzes.

Viele Selbstständige und Firmen, aber auch Profi- und Amateurvereine kämpfen trotz vielfacher Soforthilfen ums Überleben und sind von der Insolvenz bedroht. Existenzängste breiten sich aus. Und wer vor Ort in den Unternehmen oder den Geschäften des täglichen Bedarfs, den Krankenhäusern und Pflegeheimen oder als Ordnungskraft gebraucht wird, arbeitet unter einer enormen mentalen und oft auch körperlichen Belastung sowie erhöhter Ansteckungsgefahr durch die Vielzahl der täglichen sozialen Kontakte.

Keine Frage: Die gegenwärtige Corona-Krise stellt uns alle vor immense Herausforderungen – kollektiv und individuell.

 

Und nun?

Wie lange diese Gegenwart für die Wirtschaft und Gesellschaft noch andauern wird, bleibt offen. Hoffnungen auf eine baldige Verbesserung der Lage erteilte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn vor wenigen Tagen eine deutliche Abfuhr. Stattdessen zeichnete er eine düstere Zukunftsprognose. Wir befänden uns – so Spahn – in der „Ruhe vor dem Sturm“.

Wenigstens soll in der Bundesliga ab Mai der Ball wieder rollen und die Saison fortgesetzt werden – allerdings in Form von Geisterspielen.  Das bringt zwar (für einige Clubs überlebenswichtige) Fernseheinnahmen. Aber natürlich ist es schwer vorstellbar und auch irgendwie unheimlich, dass die restlichen Partien wohl so ganz ohne Publikum und Fangesänge stattfinden werden. Als Dauerlösung über die Saison hinaus eignen sich Geisterspiele jedenfalls nicht.

Anders als beim Fußball, wo die Saison notfalls vor leeren Rängen zu Ende gebracht werden soll, gestaltet sich die Situation hinsichtlich der Olympischen Spiele, die in diesem Sommer in Tokio hätten stattfinden sollen. Sie wurden gänzlich abgesagt und sollen nun erst im nächsten Jahr ausgetragen werden – eine historische und bislang einmalige Entscheidung. Denn noch nie wurden Olympische Spiele in Friedenszeiten abgesagt. Zuletzt hatte es während des Zweiten Weltkrieges in den Jahren 1940 und 1944 keine Spiele gegeben.

Ähnlich wie bei Wirtschaftsunternehmen, Selbstständigen, Vereinen und Verbänden, die um ihre Zukunft fürchten und sich in ihrer Existenz bedroht sehen, treffen die Folgen der Corona-Krise auch einige Spitzensportlerinnen und Spitzensportler sehr hart. So gab die deutsche Hindernisläuferin Gesa Krause in einem Interview mit sport1 zu, dass die Olympia-Verschiebung ein schwerer Schlag für sie gewesen sei (auch wenn sie die Entscheidung, die Spiele erst nächstes Jahr auszutragen, nachvollziehen könne und für richtig halte). Denn:

„Ich war noch nie in meinem Leben ziellos, seit anderthalb Jahren arbeite ich akribisch diesem Ziel entgegen. Ich habe kaum Pausen gemacht, weil ich meine gute Form nutzen und weiter aufbauen wollte. Es kostet Kraft und Energie, sich vorzustellen, noch ein weiteres Jahr darauf hinarbeiten zu müssen. Gerade ist das für mich noch unvorstellbar. […] Das Training ist gerade das Einzige, das mir Halt und Struktur gibt.“
Was Gesa Krause zusätzlich zum sportlichen Aspekt mental und seelisch belastet, sind finanzielle Ängste. Auf die Frage, ob sie bereits mit finanziellen Verlusten rechnen müsse, antwortete die Hindernisläuferin: „Auf jeden Fall, weil natürlich Wettkämpfe wegfallen. Es fehlen Antrittsgelder und Prämien. Wie das aufzufangen ist, muss man sehen.“

 

Krise als Chance zur Begegnung  mit sich und mit anderen

Aufgrund dieser vielfältigen Stress- und Drucksituation fordert Dr. Valentin Markser, der als Sportpsychiater tätig ist und Robert Enke vor dessen Suizid betreut hatte, eine umfassendere Begleitung im Spitzen- und Leistungssport. In einem Interview mit SWR Sport stellte Markser klar, dass Athletinnen und Athleten nicht nur „für körperliche Beschwerden, sondern auch für seelische Beeinträchtigungen“ anfällig seien – auch und insbesondere in der gegenwärtigen Situation, die alle völlig unvorbereitet getroffen habe.

Laut Markser, und das kann ich durch meine Erfahrung als Life-Coach im Spitzensport bestätigen, delegieren die meisten Sportlerinnen und Sportler „alles, was die Konzentration auf das Training oder den Wettkampf stören könnte, an andere. Oder es wird ihnen von ihrem Verein oder ihrem Umfeld abgenommen.“ Die einseitige Konzentration auf körperliches und mentales Training und damit auf die Heranbildung einer Wettkampfpersönlichkeit habe allerdings – so Markser – dazu geführt, „dass sie viele andere Seiten ihrer Persönlichkeit vernachlässigt haben“ und es ihnen vielfach noch an dem Bewusstsein mangele, „Verantwortung nicht nur für ihre körperliche, sondern auch für ihre seelische Gesundheit zu übernehmen und das nicht anderen zu überlassen“.

Jetzt, in der Corona-Krise, wo die bisherigen Mechanismen des Ausblendens und Delegierens zugunsten der Wettkampffokussierung nicht mehr zu greifen scheinen und „das gesamte System […] plötzlich ins Wanken“ gerate, leide auch das Selbstwertgefühl der Sportlerinnen und Sportler. Markser attestiert:

„Es ist eine brutale, unvorbereitete Begegnung mit sich selbst.“
Doch genau darin, in dieser brutalen, unvorbereiteten Begegnung mit sich selbst, liegt jetzt die Chance – nicht nur für Sportlerinnen und Sportler, sondern auch für all diejenigen, die die gegenwärtige Zeit als Krise erleben – ob im Spitzensport, in der Wirtschaft oder in der Gesellschaft. In ihrem aktuellen Blogbeitrag zu Karriere, Führung und Entwicklung schreibt Svenja Hofert, dass es insbesondere in Krisenzeiten darauf ankomme, die eigene Wahrnehmung zu schulen: „Was spüre ich? Wo in meinem Körper? Welche Gedanken habe ich?“ Oder vielleicht noch existenzieller: „Was trägt mich – mich ganz persönlich? In guten wie in schlechten Zeiten, in Gesundheit und in Krankheit, in der Gemeinschaft und in der Zugehörigkeit zu anderen und im Alleinsein und der Einsamkeit, im Leben wie im Sterben? Und was trägt uns als (Hochleistungs-)System und als Gesellschaft oder gar als ganze Menschheit?“

Das sind große Fragen, ich weiß. Aber je existenzieller wir in der Krise betroffen sind, desto wichtiger ist es, sie zunächst an uns heranzulassen und zu verarbeiten, anstatt sie vorschnell zu verdrängen. Denn, so Hofert:

„Wer Gedanken und Gefühle wahrnehmen und beobachten kann, kann sie benennen und sich von ihnen lösen. Das ist der Grund, warum einige Menschen die Dinge besser aushalten als andere. Oft sind sie darin trainiert: Wer Krisen durchlebt hat, hat Übung. Kinder, die sehr früh schwierige Situationen gemeistert haben, werden oft starke Erwachsene.“
Wenn Du und ich, wenn wir alle dort, wo wir leben und arbeiten, es schaffen, uns nicht nur rein technisch mit den gegenwärtigen Herausforderungen auseinanderzusetzen – etwa mit der Frage, wie ein Cyber-Training oder ein digital geführtes Businessmeeting effektiver gestaltet werden kann –, sondern auch uns selbst mit unseren Ängsten und Zweifeln, aber auch mit unseren Hoffnungen, Ressourcen und Potenzialen, also gesamtheitlich wahr- und anzunehmen und zu entwickeln und auch anderen dazu zu verhelfen, dann bin ich überzeugt davon, dass wir gestärkt aus der aktuellen Situation herauskommen werden. Dann werden Krisenzeiten zu Hoffnungszeiten und Tiefpunkte zu Wendepunkten.

 

Vision einer besseren Zukunft

Noch einmal Markser: „Es ist immer sinnvoll, […] eine Gesamtpersönlichkeit [zu entwickeln]. Dazu zählen nicht nur körperliche Talente, sondern auch soziale und emotionale Kompetenzen, vielleicht auch künstlerische Fähigkeiten.“ In einem Artikel, den ich im November letzten Jahres zum 10. Todestag von Robert Enke geschrieben hatte und in dem ich danach fragte, was sich seitdem (nicht) verändert hat, zeichnete ich eine Vision – die Vision einer „heilvollen Allianz“, zu der sich all diejenigen verbünden sollen, „deren Aufgabe es ist, verantwortungsvoll zu fördern und zu begleiten“. Dieser Allianz möchte auch ich als Life-Coach im Spitzensport angehören. Ich plädiere für einen „New Sport“ und habe dazu auch bereits hier konkrete Handlungsempfehlungen formuliert.

Immer und immer wieder haben Menschen und Meinungsbildner bereits vor mir in einschneidenden Momenten wie z.B. zur Zeit der Finanzkrise oder nach dem Suizid von Robert Enke appelliert, dass wir uns bei aller notwendigen Leistungs- und Erfolgsorientierung nicht von Geld, Macht und Geltungsdrang, Neid, Hass und Intoleranz bestimmen lassen sollen, sondern eine andere Einstellung und ein anderes Miteinander brauchen, das geprägt ist von Sinnhaftigkeit und Menschlichkeit, Verständnis und Respekt, Solidarität und Fürsorge, Dankbarkeit und Genügsamkeit, Offenheit und Vertrauen, Freiheit und Verantwortungsbewusstsein.

Passiert ist seitdem – viel zu wenig.

Aber ich hoffe, dass es diesmal anders sein wird – in allen Bereichen, weil wir alle betroffen sind. Und dass wir die in dieser Corona-Krise aufkommende Richtungsfrage nach dem „quo vadis, Spitzensport, Wirtschaft und Gesellschaft?“ mit einem zuversichtlichen Ausblick auf eine bessere Zukunft beantworten können.

Bleib‘ gesund, hoffnungsvoll und veränderungsbereit!

 

Michael Micic

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