Von den Wegen und Irrwegen im Labyrinth des (Arbeits-)Lebens

 

Vor Kurzem bekannte der Sänger Xavier Naidoo in einem Video-Statement, in den vergangenen Jahren Fehler gemacht und sich im Labyrinth des Lebens verrannt zu haben. Ihm sei bewusst geworden, „wie wichtig es ist, sich selbst zu reflektieren“. Naidoo entschuldigte sich für die Verirrungen und Verletzungen der letzten Jahre – und distanzierte sich von „allen Extremen – [..] insbesondere und vor allem auch von rechten und verschwörerischen Gruppen“. Er stehe für Werte wie „Toleranz, Vielfalt und ein friedliches Miteinander“.

Ob und inwieweit es Naidoo gelingen wird, wieder „in die Spur“ zu kommen und verlorengegangenes Vertrauen zurückzugewinnen, müssen die nächsten Jahre zeigen. Es ist müßig, jetzt darüber zu spekulieren. Was wir aber heute tun können, ist, den Zeigefinger auf uns zu richten und zu fragen, wo wir selbst auf Irrwegen unterwegs waren (oder immer noch sind) und eine Kurskorrektur benötig(t)en – als Individuen, als Organisation, als Gesellschaft.

Innehalten für den Werte-Check

Doch zuvor gilt es, einen Schritt zurückzugehen, innezuhalten und sich einem Werte-Check zu unterziehen, zu fragen: Wofür stehe ich, wofür stehen wir? Warum sind es genau diese Werte und nicht andere? Sind sie von anderen übernommen oder die eigenen? Fördern diese Werte die individuelle Entfaltung und das gemeinschaftliche Miteinander, sind sie konstruktiv und integrierend oder destruktiv und ausgrenzend?

Die Selbstreflexion beginnt also nicht erst beim Soll/Ist-Abgleich zwischen festgelegten und gelebten Werten, sondern bereits bei der Erarbeitung der Wertvorstellungen. Wertearbeit gibt es nicht „to go“; sie ist mit gedanklicher Anstrengung und zeitlichem Invest verbunden – und sollte nur betrieben werden, wenn sie nicht allein der Außendarstellung dient, sondern mit einer Selbstverpflichtung oder zumindest einem ernsthaften Bestreben nach Umsetzung einhergeht. Nur dann hat sie einen Wert und wird ihrem genuinen Selbstverständnis gerecht. Denn Werte zu erarbeiten, bedeutet, zu klären, was im individuellen, organisationalen oder gesellschaftlichen Leben wirklich wichtig ist und Orientierung gibt – auch und gerade in instabilen und unsicheren Zeiten, wie wir sie gegenwärtig erleben.

Zweck- oder Wertegemeinschaft?

Außerdem bietet die Erarbeitung der eigenen Werte die Möglichkeit, sie mit den Wertvorstellungen anderer abzugleichen. Hierbei ist es hilfreich, zunächst einmal einfach nur wahrzunehmen und erst im zweiten Schritt zu bewerten und sich zu fragen: Wo sind unsere Gemeinsamkeiten und worin unterscheiden wir uns? Wo können wir uns gegenseitig ergänzen und voneinander lernen? Wie viel Unterschiedlichkeit wollen und können wir aushalten? Haben wir so etwas wie eine (diversity in) value unity, d.h., sind wir (bei aller individueller Unterschiedlichkeit) eine Wertegemeinschaft oder können wir uns zumindest zu einer entwickeln – und was macht eigentlich unsere Gemeinschaft aus?

Als Coach in Wirtschaft und Spitzensport höre ich oft den Satz: „Teammitglieder müssen keine Freund*innen sein; sie sollen ,nur‘ professionell zusammenarbeiten.“ Reicht das wirklich? Und was heißt „professionell“ konkret: die eigenen Wertvorstellungen und Einstellungen für sich zu behalten und sich möglichst auf keine Diskussionen einzulassen bzw. bestimmte konfliktbehaftete Themen generell zu vermeiden? Heißt „professionell“ zusammenzuarbeiten, Aufgaben (gemeinsam) abzuarbeiten und zu „funktionieren“, um die geplanten wirtschaftlichen bzw. sportlichen Ziele möglichst zu erreichen oder zumindest nicht zu gefährden? Dann sind „professionelle“ Gemeinschaften allerdings nichts weiter als Zweckgemeinschaften. Das heißt nicht, dass solche Teams nicht erfolgreich sein können. Aber wo könnten sie stehen, wenn sie keine Zweck-, sondern eine Wertegemeinschaft wären und sich auf dieser gemeinsamen Grundlage gegenseitig unterstützen und befähigen würden?

Neue Begegnungen, Krisen und Konflikte als Reflexionschance nutzen

Wie wäre es, wenn wir als Individuen, als Organisation, als Gesellschaft mehr über Werte und die Chancen und Grenzen von Wertegemeinschaften sprechen würden? Wie wäre es, wenn wir neue Begegnungen suchen sowie Krisen und Konflikte stärker nutzen würden, um zu reflektieren, wer wir sein und wo wir (nicht mehr) hin wollen? Wie wäre es, wenn wir nicht nur uns, sondern auch andere und Andersdenkende besser verstehen wollen würden? Wie wäre es, wenn wir uns und anderen zugestehen würden, im Labyrinth des (Arbeits-)Lebens auch auf Irr- und Abwege geraten zu dürfen. Und wie wäre es, Menschen wie Xavier Naidoo, die ihre Fehler eingestanden haben, wieder in die Werte – und Solidargemeinschaft zu integrieren? Halten wir diese Spannung aus und bringen wir diese Offenheit mit?

Ich vermute, dass sich der Entwicklungsgrad von Individuen, Organisationen und Gesellschaften (auch) an den Antworten auf diese Fragen ablesen lässt.

Wie denkt Ihr darüber? Ich freue mich auf Eure Antworten und Meinungen.

Michael Micic

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Bild: Alexas_Fotos/Pixabay

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