Haltung zieht nach oben und verschafft Ausblick! Bild: denkendewolke/pixabay
Lust auf eine kleine Coaching-Übung?
Stell‘ Dich bitte einmal hin, die Füße etwa schulterbreit auseinander. Strecke nun Deine Beine durch und krümme den Oberkörper soweit Du kannst. Lasse dabei ruhig die Arme herunterbaumeln. Jetzt versuche bitte, den Kopf in den Nacken zu legen und nach vorne zu schauen und dabei tief ein- und auszuatmen. Na, ausprobiert? Gut. Bleib‘ bitte in dieser Haltung und beobachte, was gerade passiert. Spürst Du die Spannung in den hinteren Oberschenkeln sowie die Schwere und den Druck in der Bauch- und Magengegend? Wie weit kannst Du sehen? Stell‘ Dir einmal vor, Du müsstest den Rest des Tages in dieser Position verharren. Was geht Dir jetzt gerade durch den Kopf? Denk‘ ruhig etwas länger darüber nach.
Nachdem Du eine Weile in dieser Position verharrt hast, richte Deinen Oberkörper bitte – weiterhin tief ein- und ausatmend – langsam wieder auf, bis Du ganz aufrecht stehst. Zieh‘ die Schultern nun etwas nach hinten und unten und mach‘ sie breit. Nimm Dir wieder Zeit und beobachte, wie die Spannung in den hinteren Oberschenkeln nachlässt und beim tiefen Ein- und Ausatmen der Druck in der Bauch- und Magengegend verschwindet. Schau‘ Dich ruhig und gelassen um – so, als wärst Du eine Königin oder ein König – und beschreibe laut oder leise, was Du gerade alles sehen und in Deinem Körper spüren kannst.
Wenn Du die Wahl hast zwischen der gekrümmten und der aufrechten Position, entscheidest Du Dich sicher für die aufrechte – oder vielleicht doch nicht?
Homo incurvatus in se ipsum – der in sich selbst gekrümmte Mensch
Im Neuen Testament wird im 13. Kapitel des Lukasevangeliums von einer Frau berichtet, die seit achtzehn Jahren krank war. Sie war gekrümmt und konnte nicht mehr aufrecht gehen. Und auch heute noch gibt es Menschen, die dieses körperliche Leiden haben und sich nicht aufrichten können. Martin Luther sprach ebenfalls vom Gekrümmtsein – allerdings nicht im körperlichen, sondern im seelischen und geistig-geistlichen Sinn. Luther bezeichnete den Menschen, der in seiner Begrenztheit und Unvollkommenheit, in seinen Ängsten und Sorgen auf sich selbst und seine eingeschränkte Perspektive bezogen bleibt und dabei gleichzeitig ständig damit beschäftigt ist, diese innere Spannung bzw. Zerrissenheit zu leugnen oder zumindest nach außen hin zu überdecken, sich gut darzustellen und so abzudecken, dass er weder angegriffen noch sonst etwas von außen in ihn eindringen kann, das zu einer Verletzung oder einer Denk- und Haltungsänderung führen würde, als homo incurvatus in se ipsum – als in sich selbst gekrümmten Menschen.
In Krisenzeiten wie der aktuellen Corona-Pandemie neigen Menschen – aber auch Staaten und Firmen, Vereine und Verbände – vielfach dazu, eine gekrümmte Haltung einzunehmen. Sie bleiben auf sich selbst und ihre eingeschränkte Perspektive bezogen, sie spüren die Spannung und den Druck, sind aber nicht bereit, sich aufzurichten, die Perspektive zu erweitern und sich (mit Hilfe von außen) umzuschauen, welche Gestaltungs- und Veränderungschancen sich ihnen trotz oder gerade wegen der Krise bieten bzw. was ihnen helfen könnte, unbeschwert zu atmen.
Je länger die Krise, desto größer die Transparenz
Vielleicht gelingt es ihnen zumindest eine Zeit lang, ihr Gekrümmtsein zu verdecken und sich nach außen hin aufrecht darzustellen; auf Dauer wird das allerdings schwierig und ist vor allem anstrengend. Je länger eine Krise andauert – und die Corona-Krise ist eine langanhaltende, deren Ende noch nicht abzusehen ist –, desto größer wird die Transparenz. Während in (vermeintlich) guten Zeiten oftmals unklar ist, wie Menschen – aber auch Staaten und Firmen, Vereine und Verbände – wirklichen ticken, bieten Krisen und damit verbundene (vermeintlich) schlechte Zeiten die Chance, hinter die Maske oder Fassade zu blicken und Einstellungen und Haltungen zu erkennen, die zuvor verdeckt oder zumindest schwieriger einsehbar waren. Insofern stellt auch die aktuelle Coronakrise einen Lackmustest dar, mit dem überprüft werden kann, ob das, was nach außen dargestellt und verkauft wird, auch tatsächlich gelebt wird und welche Wertvorstellungen und Interessen dahinterstehen. Das Krisenhandeln bzw. -nichthandeln macht Kongruenzen und Inkongruenzen zwischen Außen und Innen, zwischen Gesagtem und Gelebtem offenbar. Die Haltung wird ersichtlich. Passend hierzu formulierte es einst Helmut Schmidt:
„Charakter zeigt sich in der Krise.“
Gekrümmt oder aufrecht durch die Krise – und durchs Leben?
In welcher Haltung gehen wir durch diese Krise – und durchs Leben? Das ist die entscheidende Frage. In uns selbst gekrümmt oder aufrecht, mit einer engen und eingeschränkten oder einer offenen und weiten Perspektive; destruktiv, passiv und abwartend oder konstruktiv, aktiv und gestaltend; ausgrenzend oder einladend; ängstlich oder mutig und entschlossen; monologisierend oder dialogisierend; rein von kurzfristigen Erfolgen und Zahlen und Daten getrieben oder einer Vision und der Verantwortung für Mensch und Umwelt verpflichtet?
Entscheide selbst.
Aufrecht durchs Leben zu gehen bedeutet im Übrigen nicht, die Herausforderungen, die einem begegnen, zu ignorieren oder kleinzureden, sondern sie so zu bewältigen, dass Du selbst und andere nicht daran zerbrechen, sondern gestärkt daraus hervorgehen.
In der biblischen Geschichte, die ich erwähnt habe, bleibt die Frau nicht gekrümmt, sondern sie begegnet Jesus, der ihr Leiden sieht, sie berührt und aufrichtet – nachdem sie 18 lange Jahre nicht aufrecht gehen konnte.
Wir sehen also: Es ist nie zu spät, sich und andere aufzurichten – auch und erst recht nicht in Krisenzeiten!
Michael Micic
Buchtipp: Möller, Christian 2003. Der heilsame Riss. Stuttgart: Calwer.
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