Offenes Buch

In diesem für Deutschland doch recht erfreulichen WM-Jahr ist ein Fußballbuch erschienen, das derzeit in den Nachwuchsleistungszentren der Profivereine mächtig für Gesprächsstoff sorgt. Unter dem Titel „Traumberuf Fußballprofi“ zeigen die beiden Sportjournalisten Jörg Runde und Thomas Tamberg auf, wie hart der Weg vom Bolzplatz in die Bundesliga ist und wie wenige Talente in Deutschland tatsächlich den Sprung in den Profibereich schaffen. „Etwa 170 000 Mannschaften jagen Woche für Woche in den verschiedenen Klassen dem Ball hinterher“ (2014:90). Davon – so Runde & Tamberg – „gibt es nur rund 1500“ Spieler, die „mit dem Sport tatsächlich ihr Geld verdienen […] Und lediglich etwa 500 von ihnen spielen jährlich in der 1. Bundesliga“ (:90). Entsprechend groß ist der Druck bereits im Teenie- und Jugendalter. Der frühere Jugendnationalspieler Timo Heinze dazu: Wenn du aus der A-Jugend rauskommst, hast du etwa zwei Jahre Zeit, dich im Profibereich festzusetzen“ (zitiert in Runde & Tamberg 2014:146). Danach sei es sehr schwer, sich doch noch den Traum vom Fußballprofi zu erfüllen (:146).

Einer, der das geschafft hat, und heute beim Drittligisten VfL Osnabrück spielt, ist Marcos Álvarez. Trotz eines positiven Karriereverlaufs von jungen Jahren an blickt seine Mutter Daniela mit schlechten Erinnerungen an seine Jugendzeit zurück: „Wenn ich mir den Marcos und die anderen Talente in der Jugendzeit so angeschaut habe, hatte ich oft das Gefühl, dass sie ihrer eigenen Seele davon gerannt sind. Die Seele hatte gar keine Zeit, bei dieser rasanten Entwicklung hinterher zu kommen“ (zitiert in Runde & Tamberg 2014:39). Marion Sulprizio vom Psychologischen Institut der Sporthochschule Köln, die ich durch die Kooperation mit dem 1. FC Köln kenne und schätze, teilt diese Auffassung: „Ich kann die Einschätzung der Mutter nur bestätigen“ (zitiert in Runde & Tamberg 2014:39).

Durch meine tägliche Arbeit mit den FC-Talenten sehe ich die Situation differenzierter. Zwar ist der Erfolgs- und Selektionsdruck spürbar groß, der Umgang damit bei den Spielern allerdings individuell sehr verschieden. Wichtig ist in jedem Fall, dass die Spieler nicht sich selbst überlassen bleiben, sondern – wie es BDFL-Ehrenpräsident Horst Zingraf im Rahmen einer Trainertagung ausgedrückt hat – „Geist und Seele“ dieser jungen Menschen erreicht werden (2009:1). Hier sind die Verantwortlichen in den Vereinen gefragt, aber auch und insbesondere die Familie. Ist sie intakt und fühlen sich die Nachwuchstalente geborgen und verstanden, beeinflusst das die Entwicklung positiv.

Wie wichtig der familiäre Rückhalt ist, zeigt eine Studie über „empirische Grundlagen zur komplexen Talentförderung“ (Harttgen, Milles & Struck 2011). So gaben über 90 Prozent der befragten Spieler aus verschiedenen Nachwuchsleistungszentren an, dass die Unterstützung durch die Eltern für ihre sportliche Entwicklung „sehr“ bzw. „ziemlich wichtig“ sei (: 63ff). Die Frage ist, welche Angebote Vereine haben, um den Familienzusammenhalt zu stärken  bzw. Spieler zu unterstützen, deren Familiensituation schwierig oder gar bedrückend ist. Ich glaube, hier gibt es im Sinne des Vereins, der Spieler und deren Familien trotz der bereits durchgeführten Maßnahmen noch großes Förderpotenzial. Bis demnächst.

 

Michael Micic

Literatur:

  • Harttgen, Uwe, Milles, Dietrich & Struck, Henning 2011. „…und dann werde ich doch Profi…“: Empirische Grundlagen zur komplexen Talentförderung. Bremerhaven: Wirtschaftsverlag NW, Verlag für Neue Wissenschaften.
  • Runde, Jörg & Tamberg, Thomas 2014. Traumberuf Fußballprofi: Der harte Weg vom Bolzplatz in die Bundesliga. Weinheim: Wiley-VCH.
  • Zingraf, Horst 2009. Editorial: ITK 2009: Goldrichtig in der “Goldstadt” Pforzheim. Online im Internet: URL: http://www.bdfl.de/tl_files/bdfl/itk/itk2009/ITK09_S1_5.pdf [Stand: 14.07.2014].
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