Ohne Muße keine Höchstleistung! ©Pixabay/congerdesign

Es ist ein Jammer: So viele Kreativköpfe und Hochtalentierte in Wirtschaft und Spitzensport haben Schwierigkeiten, ihr Potenzial beständig abzurufen. Wie kann es dennoch gelingen, geht es überhaupt? Ein Antwortversuch.

In der Wirtschaft wird sie gefordert, im Spitzensport sowieso – die Leistung. Das ist der Anspruch und die Erwartungshaltung von Führungskräften an Mitarbeitende, von Trainer*innen an Sportler*innen. Grundsätzlich sollen zwar alle individuell und im Teamwork ihre Leistung bringen; aber von den Kreativköpfen und Hochtalentierten wird noch mehr erwartet. Sie sollen das Besondere leisten und ihr künstlerisches Potenzial abrufen. Und das nicht nur gelegentlich als Blitzlicht ihres Könnens, sondern am besten immer und auf Knopfdruck.

Aber das funktioniert eben nicht immer so einfach – weder z.B. bei Designer*innen in der Wirtschaft noch bei Ballzauberern wie Leroy Sané und Serge Gnabry im Spitzensport. Sie sind auf ihre je eigene Art und Weise Kunstschaffende und Freigeister. Um ihre individuelle Höchstleistung erzielen und kreativ und produktiv sein zu können, brauchen sie das, was auch Schriftsteller*innen, Musiker*innen, Maler*innen und andere Künstler*innen benötigen, was jedoch in unserer funktional ausgerichteten Leistungsgesellschaft ein Fremdwort geworden ist – Muße. Doch was ist Muße eigentlich?

Was ist Muße?

Mit Muße ist laut Oxford Languages die „freie Zeit und [innere] Ruhe [gemeint], in der man seinen eigenen Interessen nachgehen kann“. Und das digitale Wörterbuch der deutschen Sprache – kurz: DWDS – definiert Muße als „freie Zeit zu etwas“ oder auch einfach nur für „Untätigkeit“; gemeint ist ein „Zustand, der [..] die Möglichkeit bietet, etwas zu tun“, aber – und das ist entscheidend! – ohne es zu müssen. Der Soziologe Hans-Georg Soeffner versteht Muße als ein Paradoxon im Sinne einer „absichtsvolle[n] Absichtslosigkeit“ und der Ethnologe Gregor Dobler als Befreiung von der Verpflichtung zur Leistung und von Zeitvorgaben, jedoch nicht zwingend von der Arbeit als Tätigkeit.

Zusammengenommen zeigen diese verschiedenen Definitionen, dass Muße nicht nur in der Freizeit empfunden und gelebt werden möchte, sondern auch während der Arbeitszeit – bzw. dass der Mußebegriff tradierte Trennlinien zwischen Arbeits- und Freizeit, wie sie beispielsweise noch im Work-Life-Balance-Begriff zum Ausdruck kommen, aufhebt. Vielmehr beansprucht der Terminus Muße eine lebensbereichsübergreifende Relevanz und weist sowohl eine passive als auch eine aktive Dimension auf. Im Kern geht es bei der Muße um ein Befreiungs- und (Potenzial-)Entfaltungsereignis – bzw. -geheimnis, das denjenigen verborgen bleibt, die sich und Anderen keinen Raum dafür geben (können), weil sie die Muße entweder nur als Mittel zum (Erfolgs-)Zweck sehen und künstlich-manipulativ herzustellen und verfügbar zu machen versuchen – oder als irrelevant bzw. ersetzbar erachten. Muße zu ermöglichen erfordert insofern die passende Haltung und das richtige Verständnis. Um sie zunächst erst einmal besser verstehen zu können, geht es darum, die passive und die aktive Dimension der Muße im Folgenden näher zu betrachten.

Die passive Dimension

Die passive Dimension der Muße bezieht sich sowohl auf die Haltung als auch auf das Tun bzw. Nicht-Tun. Es geht darum, weder sich noch Anderen gegenüber etwas tun oder leisten zu müssen, weil ich mich leistungsunabhängig wertgeschätzt oder gar geliebt und geborgen weiß. Einfach sein zu dürfen und zu wissen, dass es gut ist, dass ich bin. Wer bereits als Kind diese tiefe Annahme erfahren hat und demzufolge mit einem Urvertrauen ausgestattet ist, hat es später leichter, eine starke Identität und Resilienz zu entwickeln.

Und es gibt Menschen, die solche tiefen Geborgenheitserfahrungen in den Religionen – insbesondere in ihren mystischen Ausprägungen – durch die Gemeinschaft mit Anderen und durch das, was sie Gott oder Transzendenz nennen, machen bzw. wiederfinden. In der jüdisch-christlichen Tradition drückt der Schabbat bzw. der Sonntag dieses äußere und innere An- und Zur-Ruhe-Kommen im wiederkehrenden Wochenrhythmus aus und ist gleichsam ein zeitlich begrenzter irdischer Vorgeschmack auf die himmlische Ruhe und den ewigen Frieden.

Es wäre allerdings ein Missverständnis, zu glauben, dass es beim Schabbat bzw. Sonntag nur um ein Ausruhen von der harten Arbeit der Woche gehe, um dann wieder mit voller Energie in eine gleichschwere oder gar noch anspruchsvollere Folgewoche zu starten. Und ebensowenig stehen Askese und Verzicht im Vordergrund. Vielmehr geht es um eine Bewusstseinshilfe, ein Gespür für das Lebendigsein, das den Alltag und das gesamte Leben prägen und reich machen soll. Solche Zeiten der Muße erinnern laut der Theologin Sonja Sailer-Pfister daran, „dass unser Leben seinen Wert in sich selbst trägt, jenseits aller Nützlichkeitserwägungen und jeder Verwertungslogik“. Und Schabbat und Sonntag als Tage der Muße sind ferner eine Art Seismograph, an dem sich Jüd*innen und Christ*innen ausrichten und prüfen können, ob sie mit sich, Gott und der Welt im rhythmischen Einklang leben – oder ob sie außer Atem geraten sind und Atem- oder gar Wiederbelebungshilfe in Form von Seelsorge benötigen.

Wer mit dieser religiösen Tradition vertraut ist und Kreativköpfe und Hochtalentierte in Wirtschaft und Spitzensport begleitet, weiß, wie wichtig das Angenommensein, das Nichts-Tun-Müssen sowie die innere und äußere Ruhe sind, um mit den eigenen Fähigkeiten (wieder) in Berührung und somit in das gelingende Tun kommen zu können. Und das führt mich zur zweiten, zur aktiven Dimension der Muße.

Die aktive Dimension

Aus der Haltung und der Geborgenheit des Nicht-Leisten-Müssens entsteht erst die Freiheit zum freiwilligen Leisten-Können und -Wollen. Das gilt allgemeinhin für alle Menschen – für Kreativköpfe und Hochtalentierte in Wirtschaft und Spitzensport jedoch noch weitaus mehr. Denn ihre besonderen Entwürfe und Spielideen brauchen – Muße. Während Führungstypen häufig dann richtig aufdrehen, wenn sie Andere anleiten, und Teamplayer, wenn sie für Andere agieren, brauchen Künstler*innen in Wirtschaft und Spitzensport das völlige Einlassen auf das Thema bzw. das Einssein mit dem Spiel(gerät).

Wenn ihnen das gelingt, kommen sie in den sogenannten Flow, d.h., sie gehen völlig auf in ihrer Tätigkeit, die wie von selbst vor sich geht. Sie entfalten dabei ohne Druck, sondern spielerisch ihr Leistungspotenzial, das außergewöhnlich ist und im Vergleich zum restlichen Team das Besondere und den Unterschied ausmacht. Aber so schnell, wie diese besonderen Momente entstehen, können sie auch wieder weg sein. Das führt uns zu einer weiteren Dimension der Muße – der Unverfügbarkeit.

Die Dimension der Unverfügbarkeit

Kreativköpfe und Hochtalentierte in Wirtschaft und Spitzensport sind zugleich Empfangende und Ausführende ihrer Kunst. Sie müssen mit ihr in Resonanz treten, aber in der Haltung von Liebenden. Sanft-streichelnd, unaufgeregt, vorsichtig, leise, konzentriert und fokussiert, bereit – aber keinesfalls fordernd oder gar laut und aggressiv. Jeder Versuch, über den Kampf in den Flow zu kommen, scheitert. Kunst muss empfangen werden, bevor sie ausgeführt werden kann. Ansonsten entzieht sie sich und bleibt sowohl den Künstler*innen selbst als auch Außenstehenden verborgen und unerkannt.

Der Soziologe Hartmut Rosa spricht davon, das jeder Beziehung zur Welt – das können z.B. andere Menschen, Dinge, die Natur oder auch Gott sein – ein Resonanzpotenzial, aber auch das Moment der Unverfügbarkeit anhaftet. Das bedeutet, dass selbst mit besonderer Kreativität und Begabung gesegnete Menschen über ihr Talent nicht frei verfügen können, sondern Angewiesene bleiben. Um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, damit in Verbindung treten zu können, brauchen sie in Anlehnung an Rosas Resonanztheorie im Spektrum zwischen den beiden Alternativen der auf Aktivität ausgerichteten Allmachtsphantasie (Verfügbarkeit) und der Passivität der Ohnmacht (Unverfügbarkeit) als dritte Strategie eine – wie er es nennt – „mediopassive bzw. medioaktive“ Form der Weltbeziehung, um sich so als „teilmächtige, selbstwirksame und responsive Teilhabende verstehen“ zu können.

Ableitungen für Führungskräfte und Trainer*innen

Im Hinblick auf daraus resultierende Ableitungen für Führungskräfte und Trainer*innen gilt es deshalb zu verstehen, dass Kreativköpfe und Hochtalentierte in Wirtschaft und Spitzensport, die Schwierigkeiten haben, ihr Leistungspotenzial abzurufen, nicht zwingend faul sein müssen, sondern keine Muße, d.h. keine Freude und keinen Zugang zu ihren Fähigkeiten haben.

Sie brauchen Hilfe von außen, um diesen Zugang in Form einer mediopassiven bzw. medioaktiven Haltung wiederzugewinnen, Beschränkungen und Hürden spielerisch zu überwinden und Resonanz aufzubauen – wohlwissend, dass das Moment der Unverfügbarkeit stets bestehen bleibt. Mit welchen Worten so etwas gelingen kann, zeigte beispielsweise der Trainer der serbischen Fußballnationalmannschaft, Dragan Stojkovic, seinen Spielern vor der WM 2022 in Katar, als er ihnen sagte: „Ne morate ništa, a možete mnogo“ – was übersetzt heißt: „Ich müsst nichts, aber ihr könnt viel!“

Stojkovic ist ein Nationalheld in Serbien. Als Profi war er selbst ein Künstler. Vielleicht können am Ende nur Künstler*innentypen einander verstehen und fördern. Im Fall von Sané und Gnabry scheint es mir zumindest so!

Wie ist Eure Meinung dazu? Ich freue mich auf Eure Rückmeldungen.

Michael Micic

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