Nach dem WM-Aus ist vor der Heim-EM – wie geht es weiter mit dem deutschen Fußball? ©Pixabay/Pixel2013
Die DFB-Elf ist wieder einmal bei einem großen Turnier früh ausgeschieden – zum dritten Mal in Folge; und diesmal bei der wohl umstrittensten WM aller Zeiten: in Katar. Was ist da schiefgelaufen, wie geht es jetzt weiter, welche Reformen braucht es?
Ursprünglich war ich als Sportmanager, Theologe und Coach nicht gerade begeistert davon, dass die diesjährige – und ohnehin bereits umstrittene – Fußball-WM in Katar in die Adventszeit fällt – und damit in die Zeit der Entschleunigung und des Jahresrückblicks, der Reflexion und der Besinnung.
Nach dem seit 2018 und 2021 nun zum dritten Mal in Folge frühen Ausscheiden der DFB-Auswahl bei einer WM oder EM frage ich mich allerdings, ob es nicht doch vielleicht genau die richtige Zeit ist, um nicht nur allgemein in der Gesellschaft einen Rück- und Ausblick am Jahresende zu wagen – sondern auch und insbesondere im deutschen Profi- und Nachwuchsfußball, und zwar grundsätzlich. Denn ein „weiter so“ – das ist allen Expert*innen klar – kann es nicht geben.
Vertane Entwicklungschancen in Erfolgszeiten
Dass es hierzulande in der Sportart Nummer eins Reformen braucht, ist bereits länger bekannt. Einiges wurde auch bereits umgesetzt (etwa die Gründung der DFB-Akademie oder die neue Trainer*innenausbildung), aber es fehlt insgesamt seit Jahren an einer Weiterentwicklung und Aufbruchstimmung, wie sie beispielsweise im Jahr 2000 durch die Gründung der Stützpunkte und Nachwuchsleistungszentren (NLZ) sowie insbesondere im Jahr 2004 durch die innovativen und radikalen Ansätze von Jürgen Klinsmann gegeben war. Deutschland zählt inzwischen nicht mehr zu den Top-Nationen im Fußball. Das liegt auch und insbesondere darin begründet, dass in den Jahren des Erfolgs – die DFB-Elf stand zwischen 2006 und 2016 bei jeder WM und EM immer mindestens im Halbfinale – die notwendigen Reformen und Weiterentwicklungen nicht in der gleichen Radikalität fortgeführt worden sind. Was meine ich damit konkret?
Falscher Fokus: Kollektiv- statt Individualidentität
Bereits 2014, im Jahr des WM-Triumphs, betonte beispielsweise Bernhard Peters – ebenso wie in späteren Jahren Ewald Lienen und DFB-Akademieleiter Tobias Haupt –, dass es bei der Persönlichkeitsentwicklung und -stärkung noch „am meisten zu verbessern“ gebe. Und der Sportsoziologe Ansgar Thiel von der Uni Tübingen konstatierte im Jahr 2015 bei seinem Vortrag im Rahmen der NLZ-Leiter-Tagung in Mainz, dass der „Faktor ,Lebenswelt‘ [und Lebensgefühl]“ in der sportwissenschaftlichen Forschung in Deutschland unterbelichtet sei und Sportler*innen in der Praxis vielfach Command-and-Control-Strukturen sowie „stereotype[n] Trainererwartungen“ ausgesetzt seien.
Deshalb brauche es Reformen und auch eine stärkere Betonung der Individualidentität. Letzteres wurde in den vergangenen Jahren gebetsmühlenartig von Experten wie Peter Hyballa, Norbert Elgert, Matthias Sammer und Mehmet Scholl gefordert. Stattdessen dominierte vielfach das „Bewahren“ über das „Verändern“ und der im Jahr 2015 eingeführte und bei den Fans ungeliebte, die Kollektividentität fördernde Markenname „Die Mannschaft“ wurde erst Mitte dieses Jahres wieder abgeschafft.
Der Ausbruch aus der Norm als Förderlücke
Wie wichtig die Förderung von Individualität und – wie Hyballa es nennt –, „Gelegenheiten zur funktionellen Abweichung“ sind, betont auch Julian Nagelsmann. In einem Podcast mit den Sportpsychologinnen Chiara Behrens de Luna und Luisa Husmann erläuterte der Bayern-Trainer im Februar dieses Jahres:
„Man tendiert [als Trainer] dazu, wenn ein Spieler [..] einen Ruf hat, der jetzt nicht ideal ist, der nicht als Musterschüler gilt, dann jede kleine Aktion sofort als ein Riesending zu titulieren. Ich glaube, es ist manchmal ganz wichtig, einfach auch mal in Momenten [..] clever wegzuschauen, ihnen auch mal ein bisschen Freiraum zu geben – und einzukalkulieren, dass sie vielleicht nicht alles so machen, wie es in der Norm steht. Aber am Ende machen sie halt auch auf dem Feld nicht alles, wie es in der Norm steht – sondern machen auch mal da besondere Sachen. Und diese besonderen Sachen sind am Ende dann schon oft der Schlüssel, wie du sehr, sehr erfolgreich sein kannst. Wenn jeder nur immer Job nach Vorschrift macht, dann kann trotzdem was Gutes rauskommen; aber wahrscheinlich nie was Perfektes oder nie was Außergewöhnliches. Und wenn da Spieler sind, die auch mal aus dieser Norm ausbrechen – immer im Teamgefüge –, aber trotzdem auch mal ausbrechen, dann sind es diese Individualisten, die am Ende auch Titel oder besondere Momente bescheren.“
Julian Nagelsmann
Die Frage ist, wie sehr diese Möglichkeit, individuell zu sein und auch mal aus der Norm ausbrechen zu dürfen, in den vergangenen Jahren gefördert worden ist. Wo war dieser Freiraum und wo sind die Typen, die die „besonderen Sachen“ (Nagelsmann) machen und – wie es Antonio Rüdiger nach dem WM-Vorrundenaus in Katar formuliert – „die letzte Gier, das etwas Dreckige“ mitbringen?
Talent allein reicht nicht – es braucht Persönlichkeit(en)
Laut Mehmet Scholl braucht es für große Karrieren und Erfolge folgende Komponenten: Technik und Taktik, Athletik – und Persönlichkeit. In Bezug auf den letztgenannten Bereich fragt der Ex-Profi: „Wie reagiert ein Spieler, wenn’s eng wird? Wird er besser, lehnt er sich auf, legt er eine Schippe drauf oder bricht er weg?“
Die Ergebnisse der letzten Jahre haben gezeigt, dass die DFB-Elf zwar hochtalentiert ist, dem Druck bei Welt- und Europameisterschaften jedoch nicht standzuhalten und aufzudrehen vermag. Es passieren zu viele spielentscheidende Fehler. Deutschland ist keine Turniermannschaft mehr und hinkt in der Entwicklung inzwischen anderen Fußballnationen hinterher.
Der (tatsächliche) Stellenwert einer Funktion bemisst sich am Invest
Die Entwicklung der Persönlichkeit erhält neben dem Training von Technik, Taktik und Athletik bislang nicht den Stellenwert, der notwendig wäre, um zukünftig wieder oben mitzuspielen. Im Profibereich gibt es hierzu in der Regel kaum Angebote. Auch die viel zitierten dualen Ausbildungsmöglichkeiten im Nachwuchsbereich und die Pflichtseminare zu Themen wie Anti-Doping, Spielsucht und Spielmanipulation sowie Anti-Rassismus und Anti-Diskriminierung reichen nicht aus, wenn der vorgegebene Ausbildungsrahmen zu wenig Raum für Individualität, Andersartigkeit und Ausbruch aus der Norm zulässt.
Selbst eigentlich hilfreiche sportpsychologische Angebote verlieren ihren Impact und bleiben für die meisten unerreichbar, wenn – wie das in der Regel der Fall ist – ein*e Sportpsycholog*in im NLZ 200 Jugendspieler*innen betreuen soll. An die sportmedizinische Abteilung wird doch auch ein anderer Betreuungsschlüssel angelegt, warum also nicht auch in anderen wichtigen Bereichen? Die Wirksamkeitserwartung an eine Funktion und deren Stellenwert zeigen sich auch und vor allem daran, wie viel ein Verein oder Verband bereit ist, in Zeit, Geld und Größe des Funktionsstabs zu investieren.
Von den Investitionen in England mit den dortigen Player Care Departments, Club Chaplaincy-Angeboten und Life-Skills-Seminaren und Nach-Karriere-Betreuungen wie z.B. der Initiative „Player4Player“ ist der deutschen Profi- und Nachwuchsfußball jedenfalls noch weit entfernt. Es muss allerdings hierzulande nicht unbedingt ein mehr, mehr, mehr geben. Ggf. würde es auch Sinn machen, die Gelder einfach nur umzuverteilen und mehr in den Bereich der Persönlichkeitsentwicklung zu investieren und dafür in anderen Bereichen Einsparungen vorzunehmen. Die jetzigen Maßnahmen und Investitionen reichen jedenfalls nicht aus, um nachhaltig erfolgreich zu sein.
Mut zur Veränderung bedeutet Mut zum Diskurs und zur Diversität
Wer Reformen anstoßen und Veränderungen vornehmen will, braucht Mut – zum Diskurs und zur Diversität. Ohne beides geht es nicht. Diskurs und Diversität in den eigenen Reihen erzeugen die für die Veränderung notwendige Reibung. Wer stets unter seinesgleichen weilt und den Diskurs nicht fördert, stagniert. Allerdings ist der Diskurs nur dann fruchtbar, wenn es dabei nicht um Eigeninteressen, sondern um die Sache und den eigenen Beitrag zum gemeinsamen, übergeordneten Ziel geht. Bernhard Peters betont, dass dort, wo es um „Machtinteressen und Eitelkeiten“ gehe, „keine systematisch erfolgreiche Spitzensportentwicklung“ möglich sei.
„Uneitel“ agieren deutsche Fußballvereine und -verbände m.E. dann, wenn es ihnen gelingt, sich einerseits auf gemeinsame Ziele, Funktionen und Inhalte zu committen und andererseits – wie Katja Kraus es treffend formulierte – „andersdenkende Menschen einzubeziehen, Einflüsse von außen [zuzulassen], unterschiedliche Kompetenzen [wahrzunehmen und zu fördern sowie] jüngere Menschen zu hören“. Ich wünsche dem deutschen Profi- und Nachwuchsfußball, dass ihm das gelingt, und zwar schnell – denn nach dem WM-Aus in Katar ist vor der EM. Und die ist bald. 2024. In Deutschland.
Soweit zu meiner Einschätzung. An welchen Stellschrauben würdet Ihr drehen? Ich bin gespannt auf Euer Fazit nach dem Vorrunden-Aus der DFB-Elf in Katar und auf Eure Zukunftsperspektiven in Bezug auf die Heim-EM 2024.
Michael Micic
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