Radikale Offenheit: Superstar Dennis Schröder (l.) kritisiert Daniel Theis im WM-Spiel gegen Slowenien. | © Eurosport
Wer Menschen in Hochleistungsbereichen wie Wirtschaft und Spitzensport führt, wünscht sich, ihr Bestes zu erhalten. Aber nur die Wenigsten wissen, wie sie das Potenzial der Mitarbeitenden bzw. Sportler*innen gemeinsam mit ihnen entdecken und entfalten können. Anschauungsunterricht bietet die deutsche Basketball-Nationalmannschaft.
Sie ist heiß begehrt und doch so schwer zu erreichen: die volle Potenzialentfaltung! Die amerikanische Unternehmerin und Autorin Kim Scott, die an der Harvard Business School studierte und später in namhaften Unternehmen wie Google und Apple leitende Positionen bekleidete, entwickelte ein Führungsmodell, das genau dieses Ziel verfolgt und den Namen „Radical Candor“ trägt.
Was ist „Radical Candor“ – und was nicht?
Bei „Radical Candor“ (dt.: „radikale Offenheit“) handelt es sich um keine Methode, die mechanisch eingeübt werden kann, sondern um eine Haltung und – wie die Organisationsberaterin und Coachin Barbara Wietasch es treffend formuliert – um „einen geradlinigen, zutiefst menschlichen Ansatz, um Beziehungen im persönlichen und beruflichen Kontext zu entwickeln und so miteinander zu wachsen“.
In ihrem TED Talk und ihrem Buch „Radical Candor“ erläutert Scott, was es braucht, um als Führungskraft in der Wirtschaft – und gleiches gilt für Trainer*innen und Führungsspieler*innen im Spitzensport – eine tragfähige Beziehung zu Mitarbeitenden (bzw. Sportler*innen) aufzubauen und Potenzialentfaltung zu ermöglichen: Fürsorge und Herausforderung – wobei die Fürsorge im Sinne eines echten Interesses am Menschen (und nicht an der Ressource!) die Basis von allem ist und insofern eine Vorrangstellung innehat. Scotts Credo lautet: „Care personally, challenge directly.“
Vier verschiedene Führungsstile – eingeordnet in ein Kreuzdiagramm
Um die Besonderheit des Radical-Candor-Ansatzes herauszustellen und gegenüber anderen Führungsstilen abzugrenzen, entwickelte Scott die folgende Kreuzgrafik:
Vier Führungsstile aus Kim Scotts Buch „Radical Candor“.
Auf der senkrechten Achse stehen unter der Überschrift „care personally“ in Bezug auf die Stärke/Intensität die Kürzel „h“ für „high“ bzw. „hoch“ und „l“ für „low“ bzw. „niedrig“. Und auf der waagrechten Achse unterscheidet Scott bezogen auf den Grad der direkten Herausforderung ebenfalls zwischen „h“ für „high“ bzw. „hoch“ und „l“ für „low“ bzw. „niedrig“. Insgesamt entstehen so vier Quadranten, in die sich vier verschiedene Führungsstile einordnen und wie folgt beschreiben lassen:
1. Radical Candor (radikale Offenheit): Hohe Herausforderung und hohe Fürsorge. Klare, direkte Kommunikation, gepaart mit einem unterstützenden Verhalten.
2. Obnoxious Aggression (unangemessene Aggression): Hohe Herausforderung, aber geringe Fürsorge. Direkte Kommunikation, jedoch ohne ausreichende Berücksichtigung der Beziehung.
3. Manipulative Insincerity (manipulative Unehrlichkeit): Geringe Herausforderung und geringe Fürsorge. Mangelnde Offenheit und Interesse, wird oft von Führungskräften praktiziert, die Konflikten ausweichen.
4. Ruinous Empathy (zerstörerisches Mitgefühl): Geringe Herausforderung, aber hohe Fürsorge. Wohlwollend, aber zögerlich, offen und direkt zu sein – was zu fehlendem Fortschritt führen kann.
Wie diese Einordung und Beschreibung zeigt, reicht es für eine ganzheitliche Entwicklung und Potenzialentfaltung eben nicht aus oder es wirkt sogar demotivierend, wenn Führungskräfte nur Fürsorge betreiben oder nur herausfordern. Es braucht beides – und beides ausgeprägt. So entstehen Spitzenteams. Zudem ist das Prinzip der radikalen Offenheit keine Einbahnstraße von Führungskräften und Trainer*innen in Richtung Mitarbeitende und Sportler*innen, sondern auch „bottom up“ oder innerhalb von Teams umsetzbar, wie das Beispiel der deutschen Basketball-Nationalmannschaft bei der diesjährigen WM eindrucksvoll gezeigt hat.
Radical Candor am Beispiel der deutschen Basketball-Nationalmannschaft
Auf dem Weg zum WM-Sieg traf das deutsche Team beim letzten Zwischenrundenspiel auf Slowenien. Dort kam es im 1. Viertel zu einer hitzigen Diskussion zwischen Superstar Dennis Schröder und Daniel Theis, in die sich dann auch Trainer Gordon Herbert einmischte. Schröder war unzufrieden mit Theis‘ Leistung und sagte zu ihm: „Red‘ ich nicht [.. so offen] mit dir, seitdem ich 14 bin? Red‘ ich nicht so mit dir, die ganze Zeit über – um das Beste rauszukriegen [.. aus] dir?“ Theis zeigte sich genervt, ihm missfiel Schröders offensive und direkte Art des (auch noch ungefragten!) Feedbacks. Ihm missfiel „Radical Candor“.
Schröder betonte die langjährige Beziehung der beiden („seitdem ich 14 bin“) ebenso wie den Grund seiner fordernden Art („um das Beste rauszukriegen [.. aus] dir“). Denn gerade im Spitzensport entscheiden auf höchstem Level oft Kleinigkeiten über Sieg oder Niederlage, Titel oder Ausscheiden. Zudem hatte Schröders Weckruf auch einen fürsorglichen Hintergrund. Denn er ließ Theis mit seiner Kritik nicht allein, sondern stand gemeinsam mit ihm auf dem Platz, unterstützte ihn und übernahm als Führungsspieler Verantwortung für das große Ziel, nach dem das Team strebte: Weltmeister zu werden! Mit Erfolg – Deutschland gewann souverän gegen Slowenien, Schröder und Theis zeigten sich schnell wieder versöhnt. Und nach weiteren Siegen gegen Lettland, die USA und im Finale gegen Serbien holten die deutschen Basketballer zum ersten Mal in der Geschichte WM-Gold.
Besondere Ziele erfordern besondere Maßnahmen
Was das Team von Gordon Herbert so besonders machte, waren die Energie und der Team Spirit. Beides schien noch stärker zu werden, je größer die bevorstehende Herausforderung war und je länger das WM-Turnier andauerte.
Lassen sich diese Energie und dieser Team Spirit ebenso wie Schröders „Radical Candor“ auch auf das Hochleistungssystem „Wirtschaft“ übertragen? Kim Scott meint „ja“, denn sie stammt aus dem Wirtschaftsbereich und schreibt für diese Zielgruppe. Entscheidend ist das gemeinsame (!) Ziel.
Wie hoch willst Du, wie hoch wollt Ihr hinaus? Für höchste Ziele braucht es volle Potenzialentfaltung – und dafür „Radical Candor“!
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